Veröffentlichungen : Die Wunden berühren - Therapeutische Arbeit mit Holocaust-Opfern und ihren Kindern in der Schweiz
Obwohl viele jüdische Kinder den Horror des Holocaust erlebt haben, fühlten sie sich lange Zeit gar nicht als "richtige Holocaust-Überlebende". Im Vergleich zu den Schrecken ihrer Eltern sei ihr "Leiden nicht der Rede wert". Das hat sich geändert. Für die zunehmende Sensibilisierung in der Schweiz zeichnen auch Revital Ludewig-Kedmi und Silvie Tyrangiel, die Autorinnen dieses Dossier-Artikels, verantwortlich. Sie betreiben in Zürich eine psychosoziale Beratungsstelle für Holocaust-Überlebende und ihre Angehörigen.
"Gibt es überhaupt Holocaust-Opfer in der Schweiz?" Dies fragen viele Leute erstaunt, wenn sie zum ersten Mal von "Tamach" (hebräisch für "Hilfe" und "Unterstützung"), der psychosozialen Beratungsstelle für Holocaust-Überlebende und ihre Angehörigen in der Schweiz, hören.
Zu den Zielgruppen der Beratungsstelle gehören "Child Survivors", bzw. Menschen, die als Kinder den Holocaust überlebt haben, ältere Holocaust-Opfer sowie die zweite Generation bzw. Kinder von Holocaust-Überlebenden. Im Folgenden möchten wir einzelne Schwerpunkte aus der Therapie mit diesen drei Gruppen beschreiben sowie auf Schwierigkeiten aus der Sicht des Therapeuten in der Arbeit mit traumatisierten Opfern eingehen.
Als Kind überleben
Die Holocaust-Überlebenden, die sich an die Beratungsstelle wenden, haben unterschiedliche Schicksale. Gemeinsam ist ihnen, dass sie ihr Überleben dem Zufall verdanken. Die "Child Survivors" bilden dabei eine spezielle Gruppe, da nur wenige Kinder die Verfolgung überleben konnten. Unter den Begriff "Child Survivors" fallen alle Überlebenden, die als Kinder im KZ, im Versteck oder auf der Flucht überlebt haben und bei Kriegsende noch keine 16 Jahre alt waren (Krell 1985). Diese Bezeichnung existiert erst seit 1985, denn bis dahin fehlte den "Child Survivors" das Selbstverständnis, Überlebende des Holocaust zu sein. Viele glauben, dass die "richtigen" Überlebenden nur die älteren Holocaust-Opfer seien.
Dieser Aspekt spiegelt sich beispielsweise auch in der Geschichte von Judith Schwarz* wider. 1942 versteckt die Familie Schwarz ihre zweijährige Tochter bei einem Bauern in Frankreich. Judiths Mutter deportierten die Nazis nach Auschwitz, wo sie medizinischen Experimenten unterworfen wurde. Der Vater überlebte das Arbeitslager. 1945 kehren beide Eltern zurück und nehmen Judith wieder zu sich.
Doch die Eltern hatten sich verändert: In ihrer Angst ziehen sie von einem Land ins nächste. Das Leben im Versteck, in einer Atmosphäre von Furcht und Bedrohung, prägten Judiths Lebensgefühl. Solange ihre Eltern lebten, sprach Judith nicht über ihre Zeit im Versteck. Ihr eigenes Leiden erschien ihr im Vergleich zu dem ihrer Eltern weitaus geringer. Als ihr einziger Sohn zwei Jahre alt war, sieht sich Judith als geschiedene Frau gezwungen, ihn in eine Pflegefamilie zu geben, um ihre berufliche und materielle Existenz zu sichern. Sie besucht ihren Sohn einmal im Monat und nimmt ihn kurz vor seiner Einschulung wieder zu sich. Es entsteht eine Art Wiederholungszwang, eine Kette des Leidens. Auch der Sohn durchlebt - wie schon seine Mutter - Jahre der Trennung. Aus seiner Perspektive ist sein eigenes Leid, genau wie bei seiner Mutter "nicht der Rede wert".
Trauma und Alter
Während bei Erwachsenen das Trauma auf eine bereits entwickelte Persönlichkeit trifft, beeinflusst und deformiert es die Persönlichkeit des Kindes in stärkerem Ausmass. In den Forschungsarbeiten von Keilson (1991) wird deutlich, dass das Alter, in welchem das Kind einem Trauma ausgesetzt ist, eine ausschlaggebende Rolle für die spätere Bewältigung hat. Je jünger die Kinder während der Verfolgung waren, desto chronischer ist die traumatische Wirkung. Das Trauma greift in die Entwicklung ein, indem es das Kind zwingt, aussergewöhnliche Bewältigungsmechanismen zu entwickeln, zu denen es altergemäss eigentlich noch nicht in der Lage sein kann.
So muss es beispielsweise seine normalen Bedürfnisse nach Bindung und Sicherheit durch die Entwicklung aussergewöhnlicher Fähigkeiten ausgleichen. Dies zeigt sich im Fall von David Silver*. Er wurde als Kind bei einer polnischen Familie versteckt und musste zusammen mit dem Hund der Familie den Hundezwinger bewohnen. Das Tier wurde zu seinem Beschützer und Bindungsobjekt, die Menschen, die sich als nicht vertrauenswürdig herausstellten, zu seinen Feinden.
Eine weitere ausschlaggebende Rolle spielt die Phase nach der Befreiung: Traf das Kind wieder auf die Eltern oder einen Elternteil? Wurde es in Waisenhäuser oder Sanatorien geschickt? Musste es sich mit neuen Bezugspersonen auseinander setzen? (Rossberg 1999, 7)
Eines der Haupttraumata von "Child Survivors" besteht in der zu frühen Trennung von ihren Eltern - und den daraus resultierenden Gefühlen von Hilflosigkeit, Einsamkeit und Isolation. Manche, besonders junge "Child Survivors", wussten nach der Befreiung weder ihre wahren Namen noch wo sie vor der Verfolgung gelebt hatten. Nach dem Krieg war es ihnen oft nicht möglich, eine Schul- oder Berufsausbildung nachzuholen. Hatte ein Elternteil (oder beide) überlebt, erwies sich die Chance einer relativ normalen Wiederaufnahme des Familienlebens, des Schulbesuchs und der Integration in ein neues Emigrationsland als eher möglich.
Als Erwachsene werden viele "Child Survivors" ausgesprochen aktiv: "Handeln nicht Fühlen", lautet ihre unbewusste Devise. Gefühle wie Angst, Wut, Rachewünsche und Trauer, die sie bereits während der Verfolgung abspalteten, existieren bei ihnen auch nach dem Krieg. Diese führen dazu, dass sie sich auf den Aufbau einer gesicherten Existenz konzentrieren. Zu den wichtigsten Lebensstrategien dieser "Child Survivors" gehört Leistungsbereitschaft und Arbeitswilligkeit. Einige werden wirtschaftlich sehr erfolgreich, auch ohne Ausbildung; andere dagegen leben heute nahe an der Armutsgrenze.
Das Leiden der "Child Survivors" heute
Auf "Child Survivors", die als Kleinkinder verfolgt wurden, wirken die fragmentarischen Erinnerungen - sie kommen insbesondere dann auf, wenn sie beruflich nicht mehr so aktiv sind - Angst erregend: Nichts passt zusammen, Gefühle, Gedanken und Situationen stehen unverbunden, zerstreut nebeneinander. Oft wird dieser kognitiv-emotionale Wirrwarr als zerrissenes Filmband beschrieben, bei dem der Ton nicht synchron zu den Bildern läuft. Obwohl diese "Child Survivors" spüren, wie wichtig die Verbindung der Fragmente für ihre Identität ist, reagieren sie sehr ambivalent in ihrem Wunsch, sich auf diesen Prozess einzulassen.
Die Entwicklung von Zugehörigkeitsgefühl und das Bedürfnis nach Bindung ist den "Child Survivors" durch die Verfolgungserlebnisse verwehrt worden. So sind die Isolations-und Einsamkeitsgefühle ein zentrales Merkmal im Erleben der "Child Survivors".. Als Einzelgänger haben sie "gelernt", sich nur auf sich selber zu verlassen und anstehende Probleme alleine zu lösen. Minderwertigkeitsgefühle und Misstrauen bewirken oft den Wunsch, nicht auffallen zu wollen. So bleiben sie physisch und psychisch bis heute im "Versteck".
"Child Survivors", die zu Tamach kommen, wollen aus ihrer Isolation heraustreten, sich aber gleichzeitig vor dem Risiko des Unverstandenseins schützen. Deshalb ist das Angebot der Beratungsstelle - im geschützten Rahmen andere "Child Survivors" kennen zu lernen - wichtig. In einer Gruppe können sie ein Gefühl der Zugehörigkeit und somit die Stärkung ihrer Identität als Überlebende erleben. Doch trotz des Interesses, ist die Angst und Ambivalenz gegenüber Gruppen gross. Einerseits wollen sie sich mit einer definierten Gruppe identifizieren. Andererseits haben sie Angst davor, dass sie nicht richtig "dazupassen" und - noch wichtiger - dass die Gruppe sich wieder auflösen könnte.
Dadurch drängt sich das Gebot auf, die Kontinuität der Gruppe zu gewährleisten. Die Gruppe übernimmt gleichsam Elternfunktionen, um es den "Kindern" so lange zu ermöglichen, von den Eltern zu "profitieren", bis sie autonom genug sind, sich von ihnen wegzubewegen. Dies bedeutet auch, dass die Gruppe sehr flexibel und offen bezüglich Ein- und Austritten sein muss: Es wird den austretenden TeilnehmerInnen ausdrücklich erlaubt, immer wieder "zurückzukehren", falls sie dies wünschen.Zurück zum Anfang
Strategien in der Therapie
Jeder "Child Survivor" entwickelt seine individuellen Bewältigungsstrategien. Dennoch lassen sich gemeinsame Therapiethemen für "Child Survivors" festlegen:
Die erste Generation
Die älteren Holocaust-Überlebenden, die zu Tamach kommen, haben die Nazizeit im Ghetto, im Versteck oder im KZ überlebt oder kamen als Flüchtlinge bis 1939 in die Schweiz, haben jedoch ihre Familien während der Verfolgungszeit verloren.
In den ersten Jahren nach der Verfolgungszeit wurden lediglich die physischen Beschwerden, jedoch nicht die psychischen Folgen aufgrund der Erlebnisse im KZ beachtet. Nach dieser "Inkubationszeit" stand insbesondere die Hervorhebung der Pathologisierung und Psychiatrisierung der Holocaust-Opfer im Vordergrund. Hier ist z.B. der Begriff "Überlebenden-Syndrom" von Niederland einzuordnen (1980). In den letzten Jahren beschäftigen sich immer mehr Forschungsarbeiten und Therapien nicht allein mit dem "Defizitmodell", sondern auch mit den positiven Bewältigungsstrategien und Ressourcen der Überlebenden (Ludewig-Kedmi 1998).
In der Arbeit von Tamach versuchen wir, sowohl die Bewältigungsstrategien als auch die wiederholten Alpträume, die Ängste, den Schmerz und die Trauer über die enormen Verluste einzubeziehen. Zentrale Ressourcen stellen z.B. die Integrationsfähigkeit der Überlebenden, ihre Arbeit und die Familiengründung dar. Aus dieser Perspektive wird die Traumatisierung nicht mehr als Krankheit, sondern als "normale" Reaktion auf ein extrem schweres Ereignis verstanden.
Zeugnis ablegen
Holocaust-Überlebende sind heute ältere Menschen. Ihr Durchschnittsalter liegt bei 75 Jahren. Viele der Überlebenden sprachen nie über ihre Verfolgungserlebnisse, weil sie niemanden damit belasten wollten oder befürchteten, nicht verstanden zu werden. Jetzt, im Alter, setzen sie sich erneut mit dem Thema Tod sowie mit dem Resümee des Lebens auseinander. An dieser Stelle fragen sie sich: "Was soll mit meinen Erinnerungen passieren, wenn ich nicht mehr da bin?" Das jahrelange Schweigen zu brechen, erfordert von diesen Überlebenden Überwindung und Vertrauen, dass ihre "Verfolgungsgeschichte" auf offene Ohren trifft und ausgehalten wird.
Mit dieser Hoffnung wenden sich die Überlebenden an Tamach, wo ihnen ermöglicht wird, innerhalb von Einzel- oder Gruppengesprächen ihre Lebensgeschichte zu erzählen, aufzuschreiben und zu dokumentieren. Dieses Bedürfnis entspricht dem Wunsch "Zeugnis abzulegen", um etwas zu hinterlassen, solange dies noch möglich ist. Es ist normal, dass ältere Menschen diesen Drang verspüren, sich mit ihrer Vergangenheit zu beschäftigen. Holocaust-Überlebende haben jedoch keine "normale" Vergangenheit, sondern eine traumatische.
Der israelische Psychologe Nathan Durst beschreibt diese typischen Erinnerungsprozesse von Überlebenden und weist auf die damit verbundene Reaktivierung des Traumas im Alter: "Jetzt, da sie altern, sind sie in verschiedene Prozesse involviert, unter anderem in den des körperlichen Verfalls und in den der Trennung von Menschen. Doch für die Überlebenden des Holocaust ist es das zweite Mal, dass sie mit dem Nachlassen ihrer physischen Kräfte und mit Verlusten konfrontiert werden. Das Alter lässt Erfahrungen aus dem Holocaust wieder lebendig werden, und in der Einsamkeit von heute fühlt man den Schmerz von gestern wieder; körperliche Beschwerden, wie sie bei fortschreitendem Alter nicht ungewöhnlich sind, können alte Ängste reaktivieren: Krankheit bringt den Tod, den Tod durch Vernichtung" (Durst 1995, 22).
Innerhalb der Therapie erfahren die Überlebenden, dass ihre Erinnerungen und ihr Leiden, aber auch ihr Leben vor und nach der Shoah** gewürdigt werden. Denn Lebensabschnitte aus der Zeit vor oder nach der Shoah zu thematisieren, gibt den Überlebenden Kraft und kann als Quelle ihrer Ressourcen verstanden werden. Ein Ziel der Einzel- und Gruppentherapien ist, die Erlebnisse aus der Shoah-Zeit in das gesamte Leben der Überlebenden zu integrieren. Dadurch entsteht eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Erinnern und Vergessen. "Wenn die traumatische Erfahrung in Form einer Geschichte erzählt ist, gehört sie tatsächlich der Vergangenheit an, und dieser unabgeschlossene Lebensabschnitt wird abgeschlossen" (Herman 1993, 278).
Ambivalenz gegenüber der Schweiz
Die Beschäftigung mit dem Holocaust nahm in den letzten drei Jahren nicht nur bei der Schweizer Bevölkerung zu, sondern auch bei Holocaust-Opfern, die in der Schweiz leben. So spüren die Überlebenden positive und negative Veränderungen in der Haltung der SchweizerInnen.
Einerseits sind viele sehr dankbar, weil die Schweiz sie gerettet hat (z.B. durch die Aktionen von Paul Grüninger oder des "Kastner-Zugs" Ende 1944). Andererseits bekam ein Teil ihrer Verwandten keine Erlaubnis, in die Schweiz einzureisen, obwohl sie an der Grenze darum flehten. Bei mehreren Personen, die wir betreuen, kamen die Eltern - nach der Zurückweisung an der Grenze - im Konzentrationslager um. Sie haben eine ambivalente Haltung gegenüber der Schweiz, die sich einerseits in Dankbarkeit und andererseits in Kritik manifestiert. Diese Ambivalenz auszuhalten heisst, den positiven und negativen Seiten der Schweiz ins Auge zu schauen.
Diese Ambivalenz teilen sie mit den SchweizerInnen. Viele Jahre ging das Land davon aus, dass sich die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs in jeder Hinsicht korrekt und neutral verhalten hatte. Jetzt realisieren viele SchweizerInnen, dass die Schweiz nicht nur grosse humanitäre Hilfe leistete, sondern gleichzeitig auch an der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Diskriminierung von Juden (J-Stempel im Pass, Bankkonten) sowie an der Zurückweisung von Flüchtlingen an der Grenze verantwortlich war.
Das vermehrte Interesse seitens der Schweizer Gesellschaft für das, was die Holocaust-Opfer während der Nazizeit erlebten, wirkt sich positiv auf die ZeitzeugInnen aus. Sie haben die traumatischen Erlebnisse allein durchlebt, können diese aber heute mit anderen teilen. Ihr Leid bekommt durch die Anerkennung, durch das Interesse der Gesellschaft einen Sinn.
Die zweite Generation
Eine weitere Zielgruppe der Beratungsstelle sind Angehörige der "zweiten" Generation. Zu ihnen gehören alle nunmehr erwachsenen Kinder von Holocaust-Opfern, die nach Kriegsende geboren wurden. Seit den 70er Jahren ist bekannt, dass die zweite Generation durch die Traumatisierung ihrer Eltern beeinflusst worden ist. Diese "transgenerationelle Traumatisierung" ist mit unbewussten Übertragungen verbunden.
Anfänglich standen auch hier die schweren psychischen Folgen, die Psychopathologie der Kinder im Mittelpunkt. In der klinischen Arbeit konnten PsychiaterInnen in Einzelfällen beobachten, dass Kinder von Überlebenden schwere Symptome zeigten (u.a. Depression, Angstzustände, gestörte Objektbeziehungen), als seien sie selber verfolgt gewesen, während die erste Generation teilweise symptomfrei blieb. Mit der Zeit wurde deutlich, dass nur ein Teil der zweiten Generation für psychische Störungen anfällig ist, sich diese Tendenz aber nicht verallgemeinern lässt. Das heutige Interesse richtet sich denn auch stärker auf Bewältigungsstrategien und Ressourcen im Umgang mit dem elterlichen Trauma sowie auf die Frage, wie die "Transmission" sich in der Familiendynamik widerspiegelt (Ludewig-Kedmi 1999).
Angehörige der zweiten Generation, die Tamach aufsuchen, kommen aus sehr unterschiedlichen Familienkonstellationen. Nicht nur Kinder, bei denen beide Elternteile die Shoah überlebt haben, spüren das Bedürfnis, verstehen zu wollen, in welcher Form die elterlichen Traumata, die eigene Persönlichkeit und soziale Entwicklung beeinflusst haben. Auch bei Kindern, die aus gemischten Ehen stammen und oft ohne jüdische Identität aufwuchsen, ist dieses Bedürfnis stark gewachsen. Typisch für diese Gruppe ist, dass die Eltern meist über ihre Verfolgungserlebnisse kaum gesprochen oder ganz geschwiegen haben. Sie versuchten, ihre Kinder so vor den traumatischen Erlebnissen zu schützen. Gleichzeitig "diente" ihnen das Schweigen als Abwehr der mit den Erinnerungen verbundenen intensiven Gefühle. Das Schweigen bestärkte die Kinder oft in ihrem Gefühl der Entfremdung, in dem Gefühl, dass sie "anders" als die anderen Kinder waren. Andere Eltern wiederum sprachen viel, manchmal zwanghaft, von ihren Verfolgungserlebnissen und "überschwemmten" ihre Kinder durch ihre permanente Beschäftigung mit diesem Thema.
Autonomieentwicklung
Unabhängig davon, ob und wie viel das Kind vom tragischen Lebensabschnitt der Eltern wusste, nahm das Kind sie als "speziell" wahr. Das Leid der Eltern übte eine besondere Macht aus: Es veranlasste die Kinder ihre - von einem schrecklichen Geheimnis betroffenen - Eltern in Schutz zu nehmen, ihnen besonders loyal zu bleiben. Dies verhinderte eine normale Ablösung.
Heute zeigen sich die Probleme der zweiten Generation vor allem in fünf Bereichen (Tyrangiel 1989):
Es ist bei der zweiten Generation vorteilhaft, Einzel- und Gruppentherapie zu kombinieren. Die Einzeltherapie fördert die Abgrenzung zwischen den eigenen Wahrnehmungen und Gefühlen einerseits und denjenigen der Eltern andererseits. Anstelle von Schuldgefühlen tritt Empathie, anstelle von Misstrauen entwickelt sich Vertrauen. Depression wandelt sich - durch den Ausdruck der eigenen Wut und des eigenen Schmerzes - in Trauer um die vergangenen und gegenwärtigen Verluste.
Die Gruppentherapie unterstützt vor allem die Suche nach der eigenen Identität. Für einige stellt die Gruppentherapie die erste Begegnung mit einer "jüdischen" Gruppe sowie mit anderen Kindern von Überlebenden dar. Diese TeilnehmerInnen entwickeln ein Verständnis dafür, wie isoliert sie sich lange gefühlt haben. Die Gruppe stellt eine Art "Überlebenshilfe" dar, in deren geschütztem Rahmen kollektive Trauer möglich wird.
Das Dilemma der TherapeutInnen: Die Wunden berühren?
Die Arbeit mit Holocaust Opfern setzt aufseiten der TherapeutInnen die Bereitschaft voraus, sich mit realem Trauma zu konfrontieren. Dies kann emotional belastend sein. Denn es ist für sie unmöglich, die traumatische Vergangenheit rückgängig zu machen.
Oft beginnt der therapeutische Kontakt damit, dass die Überlebenden die Therapie in Frage stellen, indem gerade die Nicht-Reversibilität des Erlebten angesprochen wird. "Kann man das, was wir erlitten haben, in der Therapie ändern?" Dies kann bei den TherapeutInnen Gefühle der Ohnmacht, Verwirrung, Scham und Depression auslösen; dieselben Gefühle, welche viele dieser Menschen während und nach der Verfolgung fühlten. "Sind wir, die professionellen HelferInnen, auch nur ZuschauerInnen, die das Böse und das fortbestehende Leid lediglich beobachten und dabei passiv bleiben?" (Durst 1995, 26). In bestimmten Situationen kann sich diese Ohnmacht der TherapeutInnen in latente Aggression gegenüber den KlientInnen umwandeln (Butollo et al. 1998).
Gleichzeitig wollen die TherapeutInnen das traumatisierte Opfer schonen und schützen - und übernehmen so elterliche Funktionen (Parentifizierung). In der therapeutischen Arbeit mit traumatisierten Menschen sollten TherapeutInnen beide Seiten wahrnehmen bzw. sich der eigenen Abwehrmechanismen und Widerstände bewusst werden.
Die Frage, ob wir als TherapeutInnen die Wunden traumatisierter Menschen anfassen dürfen, taucht immer wieder auf. Tun wir ihnen damit nicht weh? Inwieweit werden wir zu "TäterInnen", wenn wir den Überlebenden "Raum" anbieten, ihre schmerzvollen Erinnerungen zu verbalisieren, um ihre Bewältigungsmechanismen zu erkennen? Wie wichtig das Berühren der Wunden ist, bringt eine Musikerin, die Auschwitz überlebt hat, zum Ausdruck. Sie erzählte, inwieweit sie das "Nicht gefragt werden" als Ausrede erlebte: "Nur wissen die Leute, die keine Wunden haben, gar nicht, dass es viel schlechter für die Wunden ist, wenn man sie nicht anfasst. Aber es gehört einiger Mut dazu, zu fragen: "Erzähl' doch mal, wie war's eigentlich im KZ?"" (Knapp 1996, 50).
Hinweis
Die Beratungsstelle Tamach bietet neben psychosozialen Aktivitäten, Einzel-und Gruppentherapien auch Weiterbildungsseminare für TherapeutInnen an. Die nächste Weiterbildung findet im November 1999 in Zürich zum Thema "Child Survivors" statt. Genaue Auskünfte unter: Tel. 01 202 70 27 (Sylvie Tyrangiel) oder Tel. 01 262 29 31 (Revital Ludewig-Kedmi).
Die Autorinnen
Revital Ludewig-Kedmi ist Diplompsychologin und Familientherapeutin. Sie forscht über Bewältigungsstrategien von Holocaust-Familien in Israel, Deutschland und der Schweiz. Sie bietet auch Weiterbildungen für TherapeutInnen über die Arbeit mit Täter- und Opferfamilien (u.a. in Bergen-Belsen und APF/Köln) an. Revital Ludewig-Kedmi ist Mitbegründerin von Tamach.
Sylvie Tyrangiel ist Psychologin FSP und beschäftigt sich seit 15 Jahren mit den psychischen Auswirkungen von Traumata auf den Einzelnen sowie auf Familien. Sie wirkte am Aufbau einer psychosozialen Begleitung von bosnischen Flüchtlingen im Rahmen der Asylorganisation für den Kanton Zürich mit. Auch Sylvie Tyrangiel ist Gründungsmitglied von Tamach.
Anschrift: TAMACH. Psychosoziale Beratungsstelle für Holocaust-Überlebende und ihre Angehörigen in der Schweiz. Postfach 316. 8059 Zürich
Literatur
Butollo et al. (1998): Leben nach dem Trauma. Über den psychotherapeutischen Umgang mit dem Entsetzen. J. Pfeiffer Verlag, München.
Durst, N.(1995): Die Einsamkeit im Alter. In: Tas L.M., Wiesse J.(Hg.): Ererbte Traumata. Psychoanalytische Blätter, Bd. 2. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.
Herman Lewis J.(1993): Die Narben der Gewalt. Kindler, München.
Keilson, H. (1991): Sequentielle Traumatisierung bei Kindern. In: Hardtmann G. (Hg.): Spuren der Verfolgung. Seelische Auswirkungen des Holocaust auf die Opfer und ihre Kinder. Bleiche, Gerlingen, 69-79.
Knapp, G. (1996): Das Frauenorchester in Auschwitz. Musikalische Zwangsarbeit und ihre Bewältigung. Von Bockel Verlag.
Krell, R. (1985): "Child Survivors" of the Holocaust: 40 years later. Introduction. Journal of the American Academy of Child Psychiatry, 24, 4, 378-80.
Ludewig-Kedmi, R. (1998): Geteilte Delegation in Holocaust-Familien: Umgang mit der Ambivalenz gegenüber Deutschland. System Familie, 11, 171-178.
Ludewig-Kedmi, R. (1999): Bewältigungsstrategien einer Holocaust-Familie. Systema. 13, 1. 25-40.
Niederland, W. (1980): Folgen der Verfolgung: Das Überleben-Syndrom - Seelenmord. Suhrkam, Frankfurt a.M.
Rossberg, A. (1998): Als Kind überleben. Vortrag in der Reihe: Leben mit der Shoah. 18.11.1999. ICZ-Kollege, Zürich. Unveröffentlichtes Manuskript.
Tyrangiel, S. (1989): Emigrantenkinder - die zweite Generation. In: Herzka, H.S., Schuhmacher, A., Tyrangiel, S. (Hg.): Die Kinder der Verfolgten. Die Nachkommen der Naziopfer und Flüchtlingskinder heute. Verlag für Medizinische Psychologie Vandenhoeck & Ruprecht. 23-79.